Der Weg über den Sinai erweist sich als neue Route für eritreische und sudanesische Flüchtlinge, die den jüdischen Staat den lybischen Gefängnissen und dem Tod auf dem Meer vorziehen. Laut UNHCR sind im Jahr 2007 mindestens 5.000 Flüchtlinge dort angekommen. Inzwischen hat Ägypten die Kontrollen verschärft und die Grenzpolizei ermächtigt, auf Migranten zu schießen. Seit Anfang des Jahres sind mindestens 16 Personen getötet worden. Auf Druck von Israel hat Ägypten ausgedehnte Verhaftungen und Deportationen gestartet, und dabei insbesondere die Eritreer getroffen. Laut Amnesty International sind von insgesamt 1.600 Eritreern, die in den ägyptischen Haftlagern festgehalten werden, seit dem 11. Juni 2008 schon 810 deportiert worden. Es handelt sich um die größte Deportation aus Ägypten, die in den letzten Jahren durchgeführt wurde, und sie könnte den Beginn einer neuen Ära der Repression in Kairo einläuten. Wer es geschafft hat, versucht inzwischen, in Israel ein neues Leben zu beginnen.
Har Zion Street Nummer drei ist eine der Adressen der eritreischen Diaspora in Tel Aviv. Ein dreistöckiges Gebäude mit etwa hundert Flüchtlingen vom Horn von Afrika. Überall liegen Matratzen. Auf den Treppenabsätzen, auf den Fluren. Beyené öffnet die Tür eines vier mal vier Meter großen Zimmers, zu dreizehnt schlafen sie darin. Um elf Uhr morgens läuft der Fernseher und einige liegen noch im Bett. Beyené ist Eritreer. Er ist seit 25 Tagen in Tel Aviv. Er war zusammen mit seiner Frau aus dem Sudan aufgebrochen. Aber sie wird noch in Ketziot festgehalten, dem israelischen Lager in der Wüste des Sinai. Beyené ist nur einer von etwa 10.000 Asylbewerbern, die in den letzten Jahren nach Israel eingereist sind. Alles hat im Jahr 2006 begonnen, als etwa 1.200 Flüchtlinge über den Sinai eingereist sind, sechs Mal so viel wie die 200 des Vorjahrs. Und dann 5.500 Flüchtlinge im Jahr 2007 und schon 2.000 im ersten Quartal 2008. Es sind vor allem Sudanesen und Eritreer. Und das ist kein Zufall. Am 30. Dezember 2005 griffen 4.000 ägyptische Polizisten in Kampfausrüstung die circa 3.500 sudanesischen Flüchtlinge an, die seit drei Monaten den Park „Mustafa Mahmoud“ im Wohnviertel Mohandessin in Kairo belagerten, wenige hundert Meter vom Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen UNHCR entfernt, und ihre Umsiedlung in einen Drittstaat verlangten. Nach den Kämpfen wurden 26 Tote gezählt, davon 7 Frauen und 2 Kinder. Das Repressionsklima in Ägypten, die Unmöglichkeit, in die Heimat zurückzukehren, nach Dafur oder in den Sudan, und die Gefahren der Fahrt über das Meer nach Italien haben eine Lücke in dem Stacheldrahtzaun geöffnet, der Ägypten und Israel trennt. Und dem Flüchtlingsstrom der Sudanesen folgt der Strom der eritreischen Flüchtlinge, von denen viele aus dem Sudan fliehen, wo die Regierung am 2. Juni die Schließung der Büros der eritreischen Opposition angeordnet hat.
Beyené lebte seit zwei Jahren in Khartoum. Er und seine Frau haben je 800 Dollar für die Reise nach Assuan in Ägypten bezahlt. Eine verhältnismäßig leichte Reise, sagt er, nicht so hart wie die Durchquerung der Wüste nach Kufrah, in Libyen. Von Assuan nach Kairo sind sie im Zug gereist. Am Bahnhof erwartete sie ein Verbindungsmann. Weitere 700 Dollar pro Person, und innerhalb weniger Tage fuhren sie in Richtung Grenze weiter. Eine Strecke im LKW, und dann zu Fuß, nachts, mitten in der Wüste, bis die ägyptischen Führer den ein Meter hohen Stacheldrahtzaun durchschnitten und ihnen sagten, sie sollen auf der anderen Seite auf die Militärstreife warten. Nachdem sie abgefangen worden waren, wurden sie in das Lager in Ketziot gebracht. Das Zeltlager für etwa 1.200 Personen ist im Juli 2007 eröffnet worden, im Hof eines Gefängnisses vor Gaza, das für die Verwaltungshaft von politischen palästinensischen Häftlingen genutzt wird. Beyenés Frau ist immer noch dort. Er wurde mit einem befristeten Dokument unter „conditional release“ entlassen. Damit kann er arbeiten, aber nur in der ihm zugewiesenen Stadt. Mitte Juli läuft die vorläufige Genehmigung ab. Sie müsste verlängert werden, aber sicher ist das nicht. Der Asylantrag liegt derzeit beim UNHCR, doch dort gibt es nicht genug Personal, um die Interviews zu bewältigen. Stattdessen kümmert man sich hauptsächlich um die Entlassungsanträge der in Ketziot festgehaltenen Migranten und um Massenregularisierungen, wie die für ein Jahr befristete Genehmigung, die kürzlich 600 Sudanesen aus Dafur erteilt worden ist, oder die 6-monatige Arbeitserlaubnis für etwa 2.000 Eritreer. Lediglich 86 Flüchtlinge sind vom UNHCR und von der israelischen Regierung anerkannt worden. Am 19. Mai 2008 hat das israelische Parlament unterdessen in erster Lesung eine Änderung des Gesetzes gegen Infiltration verabschiedet: umgehende Rückführung an die Grenze und 5 Jahre Gefängnis für illegale Einwanderung, 7 Jahre für Staatsangehörige der feindlichen Staaten: Iran, Afghanistan, Libanon, Libyen, Sudan, Irak, Pakistan, Jemen und Palästina. Der Gesetzesentwurf geht jetzt zurück an die Kommission und über ihn wird noch zweimal abgestimmt. Ein Entwurf für ein Asylgesetz liegt dem Parlament jedoch nicht vor. Dafür gibt es viele Gründe. Das politische Problem der palästinensischen Flüchtlinge und der Flüchtlinge aus den oben genannten feindlichen Staaten im allgemeinen, die mögliche Ankunft der zwei Millionen irakischen Flüchtlinge, die in Syrien und Jordanien leben, und die ideologische Frage des jüdischen Staats. In Tel Aviv sagen alle: „We are not supposed to be an immigration State, but a Jew State“. Wir sind kein Einwanderungsland, sondern ein jüdisches Land. Willkommen sind nur die etwa 180.000 im Land beschäftigten ausländischen Arbeiter – Nepalesen, Chinesen, Thailänder, Inder oder Philippiner. Jedoch nur, weil sie eine befristete Aufenthaltsgenehmigung haben, ohne Möglichkeit auf Familienzusammenführung.
Die Situation der Eritreer ist auch in Libyen weiterhin schlecht. Laut der Agentur Habeshia werden in Mishratah seit über zwei Jahren noch 700 Männer, 60 Frauen und 30 Kinder, alle Eritreer, festgehalten. Weitere 133 Eritreer sollen in Ijdabiya festgehalten werden, nachdem sie auf See verhaftet wurden, zur gleichen Zeit als der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi nach Tripolis flog, zu einem Eiltreffen mit Gheddafi am vergangenen 27. Juni. Thema der Verhandlung war die Verpflichtung, einen Teil des Radarsystems zur Überwachung der südlichen Grenzen Libyens zu finanzieren, als Gegenleistung für den Start der gemeinsamen Patrouillen in libyschen Gewässern, gemäß der Vereinbarung vom 29. Dezember 2007. Die Schiffe stehen bereit, sagt der italienische Innenminister Maroni. Aber nach welchen Regeln soll der Einsatz erfolgen? Und nach welchen Regeln erfolgen heute die Patrouillen und Einsätze von Frontex im Kanal von Sizilien, Nautilus III? Frontex bewahrt absolutes Stillschweigen. Während einer Fragestunde im Parlament hat der maltesische Ministerpräsident Lawrence Gonzi erklärt, dass die Regeln der Einsätze, die mit Schiffen aus Italien, Malta, Frankreich, Deutschland, Spanien und Griechenland durchgeführt werden, „Top secret“ sind. Dem deutschen Journalisten Roman Herzog ist es jedoch gelungen, das Schweigen zu brechen. In seinem jüngsten Radiofeature, „Krieg im Mittelmeer“, gibt die italienische Finanzpolizei Guardia di Finanza zu, dass einige Frontex-Einheiten den Migranten auf See Treibstoff und Nahrungsmittel wegnehmen, um sie zur Rückkehr an ihren Ausgangsort zu zwingen. Der Frontex-Direktor Ilkka Laitinen hat dieses Vorgehen nicht dementiert, als er in diesem Zusammenhang für das Radiofeature interviewt wurde.
Libyen hat im Jahr 2007 30.940 Immigranten auf eigene Kosten abgeschoben und verlangt Unterstützung in Höhe von einer Milliarde Euro. Im Jahr 2006 hatte Libyen 64.430 Immigranten abgeschoben und Kosten in Höhe von vier Millionen Euro getragen. Die Zahl der Migranten, die an den italienischen Küsten eintreffen, haben sich in den ersten fünf Monaten des Jahres 2008 mehr als verdreifacht: 7.077 gegenüber 2.087 im selben Zeitraum im Jahr 2007. Es sind immer mehr Frauen (11% gegenüber 8% im Vorjahr) und immer mehr Flüchtlinge vom Horn von Afrika (30%), laut Ärzte ohne Grenzen insbesondere aus dem Sudan und aus Somalia. Und immer mehr Boote stechen von Ägypten anstatt von Libyen in See, um der Zurückweisung zu entgehen. Die Tragödien nehmen im gleichen Maße zu. Während der ersten sechs Monate gab es mindestens 311 dokumentierte Todesfälle im Kanal von Sizilien, 173 davon allein im Juni. Im gesamten Jahr 2007 gab es 556 dokumentierte Opfer. Die letzte Tragödie ereignete sich am 7. Juni und kostete 140 Menschen das Leben. Wali Adbel Motagali ist der einzige Überlebende. In einem Interview mit der ägyptischen Zeitung al-Ahram erzählt er: „Auf dem Markt al-Jumua in Tripolis habe ich einen Mann kennen gelernt, der mir für 1.000 Dollar die Fahrt nach Italien angeboten hat. Am 5. Juni sind wir westlich von Tripolis gebracht worden, wo wir zwei Nächte geblieben sind. Dann sollten wir in ein Boot steigen, das nicht mehr als 40 Personen transportieren konnte, und nach nur einer Stunde ging der Motor kaputt. Wir haben vergeblich versucht, ihn zu reparieren. Kurz darauf begann Wasser ins Boot einzudringen. Einige Personen gerieten in Panik, weil sie nicht schwimmen konnten, durch die Aufregung kippte das Boot um und viele ertranken.“ Von anderen Tragödien gibt es weder Zeugen noch Überlebende. Nur die Leichen, die auf hoher See aus dem Wasser gefischt werden oder an den Küsten in Malta oder Sizilien stranden.
Auf der anderen Seite des Mittelmeers macht im letzten Bericht von Amnesty International über die Situation der Migranten in Mauretanien, einem der Haupttransitländer für die Fahrt zu den Kanarischen Inseln, Spanien wieder von sich reden. Seit dem Jahr 2006 sind Tausende in dem mit spanischen Geldern errichteten Lager in Nouadhibou festgehalten worden und dann an die Grenze zum Senegal und zu Mali zurückgeschoben worden. Amnesty deckt die Beziehungen zwischen Spanien und Mauretanien auf und hinterfragt die Zurückweisung auf hoher See von 5.000 Menschen durch Frontex-Patrouillen im Atlantik. Der Bericht enthält eine Studie über das Schicksal der 369 Passagiere des Marine I, die am 30. Januar auf See aufgehalten wurden und monatelang in entwürdigenden Bedingungen inhaftiert waren, bevor der Großteil von ihnen nach Indien, Pakistan, Sri Lanka und Guinea abgeschoben wurde. Weiter im Norden versuchen die in Marokko ohne Papiere festsitzenden Migranten um jeden Preis nach Ceuta und Melilla zu gelangen. Schwimmend oder indem sie die Grenzposten stürmen, wie es am 22. Juni in Melilla geschehen ist, als 70 schwarzafrikanische Migranten mit Gewalt versucht haben, den Kontrollposten in Beni-Enzar, zwischen Nador und Melilla, zu überwinden. Etwa fünfzig von ihnen sind verhaftet worden und werden abgeschoben werden. Von den anderen fehlt jede Spur.
Sie werden bald nach Algerien und von dort nach Mali abgeschoben werden, wie es einem der Überlebenden des Schiffbruchs von Hoccima am vergangenen 28. April passiert ist, der verhaftet und in der Wüste, in Tinzaouatine, ausgesetzt wurde. Mindestens 12.200 afrikanische Migranten sind wie er im Jahr 2007 in der Region Tamanrasset, im Südosten Algeriens, verhaftet und deportiert worden. Das Land, das auch mit dem Drama der eigenen Emigration zu tun hat, hat kürzlich ein neues Einwanderungsgesetz verabschiedet, das die Einrichtung von Haftlagern für Migranten vorsieht, die bisher in Gefängnissen, baufälligen Gebäuden oder Polizeiwachen festgehalten wurden. Zum ersten Mal kann Fortress Europe eine Fotoreportage über die Verhaftungen und Deportationen in die algerische Wüste zeigen, die von Bahri Hamza erstellt wurde. Es ist ungewiss, ob die neuen, von Europa gewünschten Lager die Migranten aufhalten werden. In der Zwischenzeit widerlegt ein soeben von der Internationalen Organisation für Flüchtlinge IOM veröffentlichter Bericht die These, auf die sich die Politik gegen die Einwanderung aus Afrika stützt, und belegt mit konkreten Zahlen, dass keine Invasion aus Schwarzafrika stattfindet und dass der Großteil der irregulären Migranten zunächst mit einem Touristenvisum einreist und nicht mit dem Boot über das Meer kommt.
Übersetzung aus dem Italienischen: Renate Albrecht