Das Sterben der Immigranten geht weiter. Mindestens 158 Menschen sind im Juli bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, ums Leben gekommen. Zwischen Libyen, Malta und Italien gab es mindestens 48 Tote, darunter zwei Kinder, zwei und vier Jahre alt, und zwei schwangere Frauen. Zwischen Marokko und der spanischen Küste Andalusiens sind 30 Menschen ertrunken, darunter mindestens fünf Frauen und 11 Neugeborene. Weitere 18 Migranten sind vor den Kanarischen Inseln gestorben. Zwischen Algerien und Sardinien sind – laut Berichten der Überlebenden, die Fortress Europe exklusiv dokumentiert hat – zwei Boote auf hoher See gekentert, und dabei gab es 38 Vermisste. Nach einem weiteren Schiffbruch in den Gewässern vor der französischen Insel Mayotte, im indischen Ozean, hat es sechs Tote und viele Vermisste gegeben. Zwei Männer sind in der Nähe von Calais, in Frankreich, umgekommen. Zwei weitere Personen sind von der ägyptischen Grenzpolizei an der Grenze zu Israel erschossen worden. Die Leiche eines irakischen Flüchtlings ist in einem Container aus Griechenland gefunden worden, der im Hafen von Venedig ausgeladen wurde. In der Türkei sind in Istanbul die leblosen Körper von 13 Männern gefunden worden, die der Fahrer des Lastwagens, in dem sie erstickt waren, zurückgelassen hatte. Sie waren mit Dutzenden weiteren Personen dicht gedrängt in einem Container versteckt und reisten auf einer bewährten Route: von der östlichen Provinz Van, an der Grenze zum Iran, in Richtung der Hauptstadt, um dann nach Griechenland weiterzureisen. Griechenland ist, vor allem seit den von Spanien gewollten Antieinwanderungsmaßnahmen, ein immer beliebteres Ziel geworden.
Bereits im Jahr 2007 sind die Landungen auf den Kanarischen Inseln gegenüber dem Vorjahr um 60% zurückgegangen. Und in den ersten sieben Monaten im Jahr 2008 sind auf den Kanarischen Inseln 4.557 Ankünfte registriert worden, gegenüber 5.594 im selben Zeitraum im Jahr 2007. Das ist der Verdienst der von Frontex vorgenommenen Zurückweisungen auf See und der Wiederaufnahmevereinbarungen, die für Marokko und den Senegal auch unbegleitete Minderjährige einschließen. Die Ankünfte an den italienischen Küsten haben sich in den ersten sechs Monaten des Jahres 2008 entsprechend verdreifacht. Auch die Ankünfte auf den griechischen Inseln in der Ägäis sind angestiegen. In den ersten sieben Monaten des Jahres 2008 sind in der Ägäis 7.263 Personen aufgehalten worden, gegenüber 9.240 im gesamten Jahr 2007. Die Maßnahmen der griechischen Küstenwache, die von Pro Asyl beschuldigt wird, die Boote der Flüchtlinge in Richtung Türkei zurückzudrängen und zu versenken, nützen nicht viel. Dieses Verfahren scheint mittlerweile auch die türkische Küstenwache anzuwenden.
„Und, wann brichst du wieder auf, heute oder morgen?“, John ulkt auf dem Platz vor der Moschee mit Hammady. Sie lachen und verabschieden sich dann mit einem langen und festen Händedruck. Sie sind noch einmal davon gekommen und jetzt fühlen sie sich unbesiegbar. Wenige Tage zuvor haben sie dem Tod ins Gesicht gesehen. In jener Nacht schrie John nur noch wie verrückt: „Nina! Nina!“ Nina – seine Frau – war die einzige Frau an Bord. Auch sie hat überlebt. Alle haben überlebt. Aber es hätte ein Massensterben sein können. Hammadi und John sind zwei der 25 Überlebenden des x-ten Schiffbruches in der Ägäis, der diesmal nicht von der griechischen, sondern von der türkischen Küstenwache verursacht wurde. Es geschah am 4. Juni 2008, irgendwo an der türkischen Küste, ein paar Autostunden von Izmir entfernt. In Izmir habe ich auch Hammadi getroffen, einen jungen Profifußballspieler von der Elfenbeinküste, auf der Suche nach seinem Glück. Im Viertel Basmane. Ein Gassengewirr hinter dem großen Bazar, mitten im Zentrum, in der Altstadt. Hier ist das Vorzimmer der Abreise. Alle, die die Ägäis überqueren, schlafen hier mindestens ein paar Nächte, nachdem sie in Istanbul die Kaçakçi bezahlt haben. Die billigen Hotels im Viertel drücken wegen der Papiere ihrer Gäste ein Auge zu und sind so über das ganze Jahr garantiert ausgebucht. In den Bars der Gassen sitzen Sudanesen und Somalier, Eritreer und Senegalesen, Nigerianer und Ivorer, sowie viele Algerier und Marokkaner.
„Wir waren 25“, erzählt Hammadi. „Wir waren seit etwa einer Stunde auf See, als wir ein großes Licht auf uns zukommen sahen. Dann haben wir ein Geräusch gehört – Paff! – und wir haben verstanden, dass das Schlauchboot ein Loch hatte. Es war das Geräusch einer Explosion. Ich glaube, sie haben auf uns geschossen. Das Boot begann zu sinken und wir sind alle ins Wasser gefallen. Zum Glück hatten wir alle eine Rettungsweste oder einen Rettungsring.“ Schließlich hat das türkische Patrouillenboot sie gerettet und verhaftet. Sie wurden nach 24 Stunden freigelassen und sind nach Basmane zurückgekehrt, denn in solchen Fällen haben sie das Recht auf einen zweiten Versuch. Und dann auf einen dritten. Denn nach Hause können sie nicht zurückkehren, da sich ihre Familien verschuldet haben, um sie nach Europa zu schicken. Hammadi hat es beim sechsten Mal geschafft. Er ist vor wenigen Tagen in Griechenland angekommen. Wir haben miteinander telefoniert.
François hingegen wird in ein paar Wochen aufbrechen. Er stammt aus Burkina Faso. Ich habe ihn in Istanbul, im Kunkapi-Viertel, getroffen. Er ist, genauso wie Hammadi, illegal über die syrische Grenze in die Türkei gekommen. Dafür fährt man mit einem Touristenvisum nach Damaskus, setzt sich mit einem connection man seiner eigenen Nationalität in Verbindung und wird dann syrischen Führern übergeben, die von Aleppo aus jede Nacht Gruppen von 20 bis 30 Personen zu Fuß über Trampelpfade begleiten, die durch die Wälder über die Grenze führen, in Richtung der türkischen Stadt Hatay (Antakya), das antike Antiochia. Der Marsch dauert sechs oder sieben Stunden. In François’ Gruppe waren Burkiner, Ägypter, Bangladescher und Sri Lanker. Sie hatten 700 Dollar an vier syrische Führer gezahlt. Einer der Führer ging von der Gruppe getrennt und gab den anderen telefonisch Anweisungen. An dieser Stelle besteht die Grenze zwischen der Türkei und Syrien aus einer nicht mehr als anderthalb Meter hohen Rolle Stacheldraht. Die Führer kontrollieren die Ausrichtung der Überwachungskameras und geben den Migranten zum günstigen Zeitpunkt das Kommando, zu springen. Von Antakya gelangt man mit dem Bus nach Istanbul. Aber François hatte Pech: Seine Gruppe ist von der türkischen Polizei aufgehalten worden und in ein Haftlager in Hatay gebracht worden. Dort blieb er sechs Monate. François erinnert sich: „Das Lager war in der Polizeistation. Es bestand aus zwei Schlafsälen, Küche und Toiletten, insgesamt nicht mehr als fünf mal zehn Meter. Wir waren 150 Personen. Es gab Etagenbetten, aber die Leute schliefen überall. Auf dem Boden, unter den Tischen, in den Duschen.“ Die Verhaftung war am 23. November 2007, mitten im Winter. „Es war kalt, wer zwei Hosen hatte, zog sie übereinander an“. Das Essen war knapp. Und es gab keine ärztliche Versorgung.
Über die Haftbedingungen in der Türkei wird wenig gesprochen. Der einzige Bericht ist kürzlich von Hyd veröffentlicht worden. Die Aussage von François bestätigt alle Anklagepunkte. „Sie schlugen uns vor allem vor und nach den Verhören. Nach der Verhaftung sollte ein Richter über unser Schicksal entscheiden, das heißt über die Möglichkeit der Rückführung an die Grenze. Wir wussten, dass wir nicht sagen durften, über Aleppo eingereist zu sein, wenn wir nicht nach Syrien zurückgeschickt werden wollten. Wir logen, um uns zu retten. Aber die Polizei verprügelte uns dafür mit den Schlagstöcken. Einer wurde so stark geschlagen, dass er zwei Monate lang im Bett liegen musste, bevor er wieder aufstehen konnte.“ Eine praktizierte Folterart ist es, Sauerstoff in die Augen zu sprühen, was ein unerträgliches Brennen hervorruft. Es gibt auch eine Isolationszelle. Sie ist nicht sehr klein, aber extrem dreckig. Kayum und Amal, zwei Bangladescher, haben 48 Stunden darin verbracht, weil sie sich geweigert hatten, mit ihrer Botschaft zu sprechen. Für Frauen ist die Situation noch schwieriger. „Die Polizisten stellten ihnen nach“, erzählt François, „und nützten dabei ihre Machtstellung aus. Sie kamen nachts herein und befahlen allen, sich in die Zimmer zurückzuziehen. Dann nahmen sie einige Frauen mit in das obere Stockwerk. Einigen gaben sie Geld. Anderen drohten sie, dass sie sie nicht freilassen würden, wenn sie sich weigerten, mit ihnen zu schlafen.“
Unter dem Druck der Drohungen und der Gewalt verlieren einige den Verstand. François erzählt mir von Tokuti, einem Nigerianer, der nach einiger Zeit auf die anderen Häftlinge urinierte, sich an die Beine der Polizisten klammerte, weinend in Unterwäsche herumlief und seinen Gott anflehte. Dann ist da noch Rafael. Er lebt in Istanbul. Ich habe ihn in der Wohnung getroffen, die sich François mit einem Dutzend Burkiner teilt. Auch er kommt aus Burkina. Er ist 32 Jahre alt. Er kommt aus einem kleinen Dorf und spricht noch nicht einmal französisch. Die Reise hatte ihm sein Bruder aus Spanien bezahlt. Er sitzt auf einer Matratze und bewegt seinen Kopf ständig vor und zurück. Manchmal weint er. Er hat Angst. Er hat Angst, dass sie ihn umbringen. Die türkische Polizei hat ihn während der Haft in Hatay dermaßen bedroht und geschlagen, dass er jetzt glaubt, verfolgt zu werden. An seinen Knöcheln sieht man die Narben vom Metall der engen Handschellen, die er tagelang getragen hat. Seine Schläfen haben sich wegen des Überbeins, das sich durch die Schläge mit dem Stock gebildet hat, verformt. Für die Polizisten war das ein Zeitvertreib geworden. Sie setzten ihm die Pistole an die Schläfe und drohten ihm mit dem Tod, erzählt er. Als er nach Istanbul kam, wollte er drei Monate lang das Zimmer nicht verlassen, aus Angst vor den Polizisten.
Wir rufen einen der Häftlinge in Hatay an. François hat seine Nummer. Aus Sicherheitsgründen können wir weder seinen Namen noch seine Nationalität veröffentlichen. Was wir sagen können ist, dass er in Europa die Voraussetzungen erfüllen würde, um als politischer Flüchtling anerkannt zu werden. Er ist seit acht Monaten in Haft. Er erzählt, dass sie ihm Sauerstoff in die Augen gesprüht haben, als er sich geweigert hat, am Telefon mit seiner Botschaft zu sprechen. Er sagt, im Moment seien 103 Personen dort in Haft. Ein Sudanese, fünf Somalier, ein Liberianer, zwei Nigerianer, 22 Birmanen, 13 Bangladescher, 10 Eritreer, 26 Afghanen. 15 Frauen sind dort: neun aus Afghanistan, eine aus Eritrea und vier aus Somalia. Außerdem fünf Kinder: drei Afghanen, ein Somalier und ein Eritreer. Das jüngste ist sechs Monate alt, das älteste neun Jahre. Dreizehn Bangladescher sind weggebracht worden. Vielleicht haben sie sie zur iranischen Grenze zurückgeschoben, weil sie kein Geld hatten, um das Flugticket für die Rückführung zu bezahlen. Die Zurückschiebung ist ein gängiges Verfahren, das am 23. April zum Tod von vier Männern geführt hat, darunter ein iranischer Flüchtling, als sie – trotz der Kritiken vom UNHCR, das in der Türkei 13.000 Flüchtlinge und Asylanten betreut – an die irakische Grenze abgeschoben wurden. Andere Häftlinge aus Hatay sind, laut der Aussage unserer Quelle, in den letzten Monate nach Nigeria, Bangladesch, Indien, Pakistan, Sri Lanka, Marokko und Ägypten zurückgeführt worden.
Ich begleite François wieder zu dem Bürgersteig in Aksaray, wo er chinesische Uhren für fünf Euro verkauft. Wir haben den Abend in Kunkapi verbracht, wo wir etwas über den somalischen Flüchtling erfahren wollten, der im Haftlager in Kırklareli, in der Nähe der griechischen Grenze, von Polizisten erschossen wurde. Aber niemand hier scheint ihn zu kennen. Die Straßen zwischen Kunkapi und Aksaray sind ein Stück Afrika. In Zeytinburnu hingegen leben Afghanen. Und in Kurtuluş und Tarlabaşi die Iraker. In jedem Haus leben auf engstem Raum Dutzende Personen. Der Fußboden der ansonsten leeren Zimmer ist mit Matratzen übersät. Keine Bettlaken. Alle warten auf die Abreise. Auf der Straße stehen im Licht der Laternen Gruppen von Landsleuten zusammen, Somalier, Eritreer, Senegalesen oder Sudanesen, tauschen die letzten Ratschläge für die Reise aus und vergleichen die Angebote der verschiedenen connection man und der Kaçakçi, für die sie arbeiten. In der Nähe, nur ein paar Schritte von den Restaurants für Touristen entfernt, blicken die im Kommissariat von Kunkapi festgehaltenen Migranten ausdruckslos durch die Gitterstäbe.
Bevor er mich verabschiedet, beginnt François einen der Rapsongs zu singen, den sie in Hatay geschrieben haben – ein bisschen, um sich die Zeit zu vertreiben, aber auch, um sich daran zu erinnern, dass das Recht nicht immer nur auf der Seite der Gewinner ist.
„If you want to kill me, kill me! Kill me!
I will never follow you to the Siryan border.
I’ve no mother, I’ve no father, I’ve only my god!
Before you use to tell me
Turkey is a democracy,
now I know it’s not true!
And now why do you want our women?
You’re a crazy man! Yes you’re a crazy man!“
I will never follow you to the Siryan border.
I’ve no mother, I’ve no father, I’ve only my god!
Before you use to tell me
Turkey is a democracy,
now I know it’s not true!
And now why do you want our women?
You’re a crazy man! Yes you’re a crazy man!“
Translated by Renate Albrecht