Die Architektur der Stadt selbst lässt einen daran denken. Man muss nur den Blick von den Schotterstraßen heben, um überall Dutzende Baustellen zu sehen. Das Rot der Ziegelsteine beherrscht den Horizont. Auf den Dächern sprießen neben den Parabolantennen die Eisengerüste der Dachgeschosse hervor. Jedes Jahr wird ein weiteres Geschoss gebaut. Jedes Geschoss ist für die Familie eines der Brüder. Auch innen sind die Wohnungen sehr gepflegt, von der Einrichtung über die Teppiche und die Fliesen im Bad bis zum Fernseher. Die Nachbarn hingegen haben noch Ziegen und Hühner auf den Terrassen, und ihre Kinder spielen barfuss auf dem Abfall am Straßenrand. Oder sie begleiten ihre Mütter zum Markt, wo sie Hühner und Zuckerrohr verkaufen. Und den Staub einatmen, der von den Autos der Emigranten aufgewirbelt wird, die sich hupend ihren Weg durch die Menschenmenge, die Traktoren und die von Eseln gezogenen Karren voller Apfelsinen bahnen. Sie sind die Ikonen des Erfolgs. Von wegen Fernseher … Im Fernsehen laufen hier lauter ägyptische Soap Operas, die in Kairo spielen. Und die Parabolantennen sind auf die anderen arabischen Sender gerichtet. Die Träume kommen nicht mehr aus dem Fernsehen. Die Träume sind real, sie laufen auf der Straße. Auswandern ist ein Status geworden. Und es sind nicht mehr die Verzweifeltsten, die aufbrechen, sondern vielmehr die Ehrgeizigsten.
Mahmud verbringt sechs Monate im Jahr in Mailand, und sechs Monate in Tatun. Er hat gerade wieder geheiratet, eine 22-Jährige aus Kairo, und sie haben ein neugeborenes Kind. Sie leben in einer Wohnung, die sie mit dem in Italien als Maurer verdienten Geld gebaut haben. In Mailand lebt er zusammen mit acht seiner neun Geschwister. Sie sind alle ausgewandert. Ashur war einer der ersten, 1991. Auch er, Stuckateur, reist zwischen Italien und Ägypten hin und her. Mit ordnungsgemäßen Papieren ist es leicht und günstig, mit dem Flugzeug zu reisen. Es gibt immer mehr Pendler. Besonders zur Zeit, da es wenig Arbeit gibt. Ashraf ist einer von ihnen. Von Mailand aus kann er zwei Frauen und – derzeit – fünf Kinder ernähren. Sie nach Italien nachkommen zu lassen, wäre zu teuer. Andere jedoch sind endgültig zurückgekehrt. ´Adel zum Beispiel ist nach sechs Jahren der Opfer in Italien nach Tatun zurückgekehrt. Er hat seine Aufenthaltserlaubnis in eine Schublade gelegt, sich mit dem Ersparten ein Haus gebaut, in dem er mit seiner Frau und drei Kindern lebt, und einen Laden eröffnet.
Die Zurückschiebungen von Lampedusa, die in den letzten zwei Jahren zugenommen haben, haben niemanden entmutigt. Im Gegenteil, sie haben nur das Alter der Flüchtlinge herabgesetzt. Allein im Jahr 2008 sind aus Ägypten mehr als Tausend Minderjährige in Lampedusa angekommen, die laut Gesetz nicht abgeschoben werden können. Deshalb haben Abdallah und Ahmed im vergangenen Dezember mit 17 Jahren die Schule verlassen. Die Eltern waren damit einverstanden. Die Geschwister in Italien hatten das Geld geschickt. Doch sie wurden vor der Abreise in Libyen verhaftet und zurück nach Ägypten geschickt. Abdallah hat es ein zweites Mal versucht. Und es ist ihm gelungen. Nach seiner Ankunft in Lampedusa ist er dennoch abgeschoben worden. Jetzt sagt er, dass er nicht mehr daran denkt, erneut abzureisen, jedoch nur, weil er die 3.000 Euro für das Ticket nicht hat. Ansonsten bräuchte er nicht zweimal darüber nachzudenken. Ein Schulkamerad von ihm, Mustafa, denkt jedoch ganz anders darüber. Er sagt, dass er Angst hat. Angst, im Meer zu sterben. Er kriegt das Bild der fünf Leichname, die vor sechs Monaten aus Libyen zurückgebracht wurden, nicht aus dem Kopf. Jugendliche aus dieser Stadt sind zu Dutzenden im Meer gestorben oder verschwunden.
Die letzte schwere Tragödie hat sich in der Nacht des ersten November 2007 an den Stränden des Naturschutzgebietes Vendicari, in der Provinz Syrakus, ereignet. 17 Personen starben dabei. Zwei Jahre danach erinnert ein Gedenkstein am Strand an die Opfer. Wir haben ihn zusammen mit einer Gruppe von Sizilianern im Jahr 2008 bei der Gedenkfeier an den Schiffbruch aufgestellt. Said, der heute im Viertel Porta Genova in Mailand lebt, hat fünf Familienmitglieder verloren. Zwei Cousins, einen Schwager, den Bruder und einen Neffen. Der Jüngste war 22 Jahre alt, der Älteste 37. Sie stammten aus Shid Muu, einem Vorort von Tatun. Sie arbeiteten als Maurer, doch für ihre Kinder wollten sie etwas Besseres. Ja, die Kinder. Said Saad hatte vier Kinder. Ibrahim Ahmed zwei. Und Aid Mohamed drei. Sie werden als Waisen aufwachsen. Und der frische Putz des von Said gemauerten Hauses wird ihre Väter nicht ersetzen können.
Sie waren aus Alessandria, in Ägypten, aufgebrochen. Für die Ägypter haben sich die Routen bereits von Libyen weg verschoben, seit mindestens zwei Jahren. Seit März 2007 nämlich ist die Landgrenze zwischen Libyen und Ägypten nicht mehr offen. Um nach Tripolis zu gelangen, braucht man einen Arbeitsvertrag. Seitdem stechen viele Ägypter direkt von der Küste zwischen dem See Burullus und Dumyat in See. Und seit Italien Hosni Mubarak aufgefordert hat, die Zügel anzuziehen, hat sich die ägyptische Polizei darauf beschränkt, aus der Menge zu fischen. In den letzten Monaten sind mindestens 85 Fischer des kleinen Hafens Burg Mghizil willkürlich verhaftet worden. Einige wurden nachts, zu Hause, verhaftet. Andere am Hafen, bei der Rückkehr vom Fischen. Denn im Unterschied zu Libyen ist der Transport der Emigranten hier den Fischern anvertraut. Diese wissen jedoch oft gar nichts davon. Informiert sind nur die Schiffseigner und die Kapitäne. Die Fischerboote laufen mit der gesamten Mannschaft an Bord zur Arbeit aus, aber sobald sie auf hoher See sind, stoßen Schlauchboote voller Emigranten zu ihnen und den Fischern wird befohlen, mit Kurs nach Sizilien weiterzufahren. Wenn es den Booten gelingt, nach der Landung in den Hafen zurückzukehren, werden alle Seemänner verhaftet. Doch die Verhaftungen erfolgen meist ohne den geringsten Beweis, so dass viele Angst haben, aufs Meer hinaus zu fahren.
Die Verteidigung der 85 Fischer ist einer Gruppe von Anwälten des Land Centre for Human Rights übertragen worden, einer ägyptischen Nichtregierungsorganisation, die seit 1997 an der Seite der Bauern im Kampf für Agrarreformen aktiv ist. Einige sind infolge von Abschiebungen aus Italien verhaftet worden. Nach der Abschiebung wird man normalerweise nach einem oder zwei Tagen Haft im Flughafen freigelassen. Aber für die Emigranten, die aus Burg Mighizil stammen, folgt oft die Verhaftung. Aus dem Hafen stechen die Schiffe der Emigranten in See und das reicht aus, um alle Bewohner des Ortes zu potenziellen Mittelsmännern zu machen. Und auch wenn ein Teil der Häftlinge von den Richtern freigesprochen wurden, so bleiben sie dennoch im Gefängnis. Seit 1981 gilt in Ägypten der Notstand. Und die Verwaltungshaft ist die Regel.
Saber erklärt mir die jüngste Geschichte der ägyptischen Wirtschaft. Denn nicht ganz Ägypten möchte auswandern. Es sind vor allem die Bewohner einiger ländlicher Gegenden. Tatun, aber auch Sharqiyah, Manufiyah, Mansura, Daqahliyah. Laut Saber hat die Agrarreform 1997 verheerende Auswirkungen gehabt. Durch die Liberalisierung der Konzessionen für die landwirtschaftlichen Flächen und das Streichen der Subventionen hat der Markt die Kleinbauern bestraft. Die Quadratmeterpreise haben sich in den letzten zehn Jahren verdreißigfacht. Ein Drittel der Landflächen ist Bauland geworden, weil das mehr Ertrag einbringt. Eine unsinnige Politik in einem Land, in dem noch 37% der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft tätig sind. Verschärft wird sie noch durch das Desinteresse der Regierung für die ländlichen Gegenden und die überhandnehmende Korruption. Ganze Dörfer haben keine asphaltierten Straßen, keine Beleuchtung und keine Kanalisation. Auch die Emigranten aus Tatun verschonen die ägyptische Regierung nicht mit ihrer Kritik. Sie sprechen von Diktatur, Korruption, sie fühlen sich sich selbst überlassen. Proteste werden gewaltsam unterdrückt. Wie der Streik in Mahalla el Kobra im April 2008, der mit einem Toten und Dutzenden Verhaftungen endete. Ganz zu schweigen von den ständigen Verhaftungen von Oppositionsmitgliedern und Anhängern der Bewegung der Muslimbrüder oder der Verfolgung von Bloggern und Journalisten. Wenn dies ihre Alternative ist, fliehen die jungen Leute lieber. Und warum über das Meer? Ganz einfach, es gibt keinen anderen, legalen Weg.
Vor dem italienischen Konsulat in Kairo warten jeden Morgen Hunderte darauf, dass sie an der Reihe sind. Mohamed ist einer von ihnen. Er hat 15 Jahre in Italien gelebt. Er beschloss, nach Ägypten zurückzukehren, doch einige Jahre später wollte er wieder zurück ins Piemont. Er hat sich von einem Freund in Turin einen Arbeitsvertrag ausstellen lassen und im Dezember 2007 seinen Antrag gestellt. Anderthalb Jahre später ist er immer noch hier, gefangen in der langsamen italienischen Bürokratie. Ein Arbeitsvertrag ist die unabdingbare Voraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis. Aber wer stellt dich in Italien ein, ohne dich zunächst gesehen und kennen gelernt zu haben? Und wer kann anderthalb Jahre warten, um jemanden einzustellen? Niemand. Daher werden die Arbeitsverträge gekauft und verkauft. Der Preis liegt bei mindestens 5.000 Euro. Oder man unterschreibt einen Arbeitvertrag in Italien, bei einem illegalen Aufenthalt, und kehrt dann nach Ägypten zurück, um sich dann bei der Botschaft vorzustellen, als ob nichts geschehen wäre. Auch Touristen, Studenten und Geschäftsleuten wird die Mobilität verweigert. Sogar um ein Touristenvisum zu bekommen, muss man einen Kontoauszug vorlegen. Und ab Juni 2009 werden auch Fingerabdrücke Pflicht.
Mit oder ohne Fingerabdrücke, Baha Addin, Tamer, Mohamed, Saad und Ahmed werden zu Hause bleiben. Sie sind fünf von den 210 ägyptischen Jugendlichen, die an einem Projekt von Italia Lavoro und Obiettivo Lavoro teilgenommen haben. Das Projekt fand zwischen Januar und April 2008 statt und hat Hunderttausende Euro gekostet. Es sollte Arbeitskräfte in Ägypten aussuchen, ausbilden und ihnen Italienisch beibringen, damit sie anschließend in Italien eingestellt werden könnten. Das einzige, was funktioniert hat, war der Sprachkurs, der von der Salesianerschule Don Bosco in Kairo durchgeführt wurde. Alles weitere war ein Desaster. Schließlich sind nur etwa sechzig der 210 Kandidaten zugelassen worden. Bei allen anderen haben es sich die Arbeitgeber anders überlegt. Die Wartezeiten sind zu lang. In der Zwischenzeit hat es einen Regierungswechsel gegeben und das Projekt ist gescheitert. Was werden diese Jugendlichen jetzt tun? Viele stammen aus Sharqiyah, einer der Provinzen mit der höchsten Emigration nach Italien. Wem werden sie sich anvertrauen, um diese verfluchte Grenze zu überqueren?
Ahmed hat sich dem Cousin seiner Mutter anvertraut. Mohammad Mohammad Ahmed el-Ayuti. Auch er stammt aus Sharquiyah, einem kleinen Dorf mit 2.000 Einwohnern: Sifeita. Es war bekannt, dass er mit Libyern in Tripolis in Verbindung stand. Eine Gruppe junger Männer aus dem Dorf war bereits mit ihm gereist. Alles war glatt gegangen. Ahmeds erster Versuch scheiterte. Sie wurden in libyschen Gewässern abgefangen und nach Ägypten zurückgeschoben. Sie versuchten es ein zweites Mal. Zusammen mit Ahmed brachen weitere 14 junge Männer aus Sifeita auf. Es war am 26. Juni 2007. Nach einem Monat, während dem er nichts von sich hatte hören lassen, rief Ahmed am 7. August seinen Vater an und sagte ihm, dass er am Freitag abreisen würde. Das war das letzte Mal, das sie seine Stimme gehört haben. Zwei Wochen später kehrten vier Überlebende in das Dorf zurück. Sie erzählten, dass der Motor kurz nach der Abfahrt kaputt gegangen war und dass sie daraufhin vier Tage im Meer getrieben waren. Ahmeds Vater erzählt mir dies, im Halbschatten des bescheidenen Wohnzimmers bei ihm zu Hause. Seine Augen glänzen. Wenn er schweigt, scheint er nach Worten zu suchen. Der Körper seines Sohnes ist nie gefunden worden. Er liegt irgendwo auf dem Grund des Mittelmeers. Ahmeds Vater beißt sich auf die Lippen und starrt auf eine Stelle an der Wand. Er hat die Augen wie jemand, der keine Tränen mehr hat. Aber Wut hat er noch. Der Mittelsmann, der ihm den erstgeborenen Sohn genommen hat, ist von den 11 Familien der Toten angeklagt und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Doch er läuft weiterhin ungestört frei herum. Er reist zwischen Italien und Ägypten hin und her. Und als ob das nicht reichte, war er so dreist, den Vater des gestorbenen Jungen anzuzeigen. Er hat ihn vor Gericht gebracht, weil er die Reise des Sohnes nicht vollständig bezahlt hat und ihm noch 2.000 Euro schuldet.
Said schüttelt den Kopf. Sein Sohn war 21 Jahre alt. Er war das älteste von drei Kindern. Der einzige Sohn. Vier Monate vor seiner Abreise hatte er geheiratet. Doch das ist noch nicht alles. Seine Frau, Safa, erwartet ein Kind. Vielleicht war dies der Grund, der ihn zur Abreise gedrängt hat. Der kleine Yusuf ist sechs Monate nach dem Tod seines Vaters zur Welt gekommen. Es fällt mir schwer, die Tränen zurückzuhalten. Ich wünschte, ich wäre nicht hier, mit meinem italienischen Pass. Ich möchte mich nicht daran erinnern müssen, das Visum für Ägypten in weniger als zwei Minuten bekommen zu haben, am Flughafen in Kairo. Ich möchte die Geschichte ausradieren. Und mich nicht an die italienische Emigration nach Ägypten erinnern. Die Erdarbeiter aus Lucca, die 1859 für den Bau des Suezkanals angeheuert wurden, die vertriebenen Anhänger Mazzinis, die Fischer aus Procida und Molfetta, die Pflegerinnen aus dem Friaul. Doch es gelingt mir nicht. Denn ich weiß, dass an Ahmeds Tod weder die stürmische See noch ein kaputter Motor Schuld ist. Sondern die falsche Farbe seines Passes.
(Gabriele Del Grande - Übersetzung aus dem Italienischen: Renate Albrecht)
Weitere Informationen: Emigration aus Ägypten nach Italien
Multimedia: Fotoreportage über
Rashid und Tatun von Laura Cugusi