Dies ist die neue Route der eritreischen und sudanesischen Diaspora. Das Endziel ist Israel. Nach Ägypten kommen sie auf dem Landweg über den Sudan oder mit einem Touristenvisum mit dem Flugzeug, nach Kairo. Von der Hauptstadt aus werden sie mit Hilfe von Mittelsmännern, in Lastwagen versteckt, nach Isma’iliyah im Norden gebracht. Von dort werden die Flüchtlinge weiter nach el-Arish oder Rafah gebracht. Dank ihrer Nähe zum Gazastreifen leben diese Städte seit Jahren vom Schmuggel. Es gibt viele Führer, die mit ihren Jeeps Fahrten zur israelischen Grenze in der Sinaiwüste anbieten. Oft werden die Passagiere am langen Stacheldrahtzaun an der Grenze sich selbst überlassen. Die größte Gefahr stellt die Grenzpolizei dar, die in solchen Fällen den Befehl hat, auf sie zu schießen. 2008 hat Amnesty International die Tötung von 25 Flüchtlingen angezeigt. Viele der Opfer waren eritreische Staatsbürger, wie die beiden jungen Männer, die am 17. September 2007 tödlich verletzt wurden: Isequ Meles, 24 Jahre alt, und Yemane Eyasu, 30 Jahre. Beide hatten den blauen Ausweis des UNHCR, mit dem ihr politisches Asyl bestätigt wurde.
Anderthalb Jahre nach ihrer Tötung treffe ich zwei ihrer Freunde. Sie heißen M. und I. und bitten mich darum, anonym zu bleiben. Wir essen zusammen in einem libanesischen Restaurant in Mohandesin, Kairo, zu Abend. I. wurde im Mai 2008 verhaftet. Er war in Isma’iliyah, auf dem Weg nach Israel. Er wurde auf die blödeste Art verhaftet: während er auf der Straße spazieren ging, allein. Sie wurden in acht mal fünf Meter großen Zellen gehalten, 60 Personen zusammen. Auf dem Boden, einer über dem anderen. Für alle 60 Personen gab es nur eine einzige Toilette. Sie waren den ganzen Tag eingesperrt, ohne das Tageslicht auch nur zu sehen. Es waren Eritreer, Sudanesen, aber auch Ivorer, Nigerianer und Kameruner, da diese Route nunmehr auch von den Küstenregionen aus eingeschlagen wird. Die meisten der Häftlinge wurden verhaftet, als sie den Sinai durchquerten. Einige Eritreer kamen auch direkt aus Libyen. Dem Tod auf dem Meer und den Razzien der Polizei Gheddafis hatten sie den jüdischen Staat vorgezogen. Sie bekamen Brot, Käse und Tahin, eine Sesampaste, zu essen. I. erinnert sich an den beißenden Geruch jener Tage. Viele litten an Durchfall. Andere hatten üble Hautentzündungen oder die Krätze. Dann erinnert er sich an die Demütigungen, die Beleidigungen und die grundlose Gewalt der Polizei, wie nach dem erfolglosen Hungerstreik von zwei Tagen, als sie geschlagen wurden. I. wurde nach 24 Tagen Haft frei gelassen. Seine Rettung war der blaue UNHCR-Ausweis. Die anderen jedoch wurden alle abgeschoben.
Zwischen dem 11. und 20. Juni 2008 wurden mindestens 810 eritreische Staatsbürger abgeschoben. Während Amnesty International aus Kairo über ihr Schicksal Alarm schlug, zeigte das Staatsfernsehen Eri TV in Asmara die Bilder der Abgeschobenen und feierte ihre Heimkehr. Der Regierungssprecher verkündete, dass alle bald zu ihren Familien zurückkehren würden und dass sie sogar eine Entschädigung in Höhe von 500 Nakfa, etwa 50 Dollar, erhalten würden. Doch es kam anders. Die Angehörigen der Abgeschobenen, die hier in Kairo leben, wissen das genau. Sie stehen ständig in Kontakt mit ihren Verwandten in der Heimat. Nur die Frauen mit Kindern sind freigelassen worden. Die anderen landeten direkt in den Militärcamps oder im Gefängnis, wie C.
C. war ein Zellengenosse von I. im Gefängnis Isma’iliyah. Er gehörte zu der Gruppe von 800 Eritreern, die im Juni 2008 aus Ägypten abgeschoben wurden. Er hat sich im Januar 2009 wieder gemeldet, nach sechs Monaten. Er hatte die Handynummer von M., einem Freund von I. in Kairo, bei sich, und rief ihn an. Er rief aus Khartoum, im Sudan, an, wo er bis heute lebt, und erzählte, dass er zusammen mit drei anderen politischen Häftlingen aus dem Gefängnis Weea, in der Nähe von Gelaelo, fliehen konnte. Das Gefängnis Weea hat in Eritrea eine traurige Berühmtheit erlangt. Es liegt in einer Senke, in einer der heißesten Gegenden des Landes. Neben verschiedenartigen Folterungen sind die Häftlinge oft während der heißesten Stunden am Tag der Sonne ausgesetzt, die Temperaturen erreichen dann 50 Grad Celsius. M. kennt das Gefängnis Weea gut. Er war einer der Hunderten von Studenten, die im August 2001 festgenommen wurden, nach Demonstrationen gegen die autoritäre Wendung des Präsidenten Issaias, die in der Annullierung der Wahlen, der Verhaftung von 11 der 15 wichtigsten Personen der Regierung und der Parteien, der Vertreibung des italienischen Botschafters und der Verbannung der unabhängigen Presse gegipfelt waren. Zwei der Studenten starben in der Hitze der Sonne. Aber nicht alle der Abgeschobenen wurden nach Weea gebracht. Die Deserteure wurden zurück zu den Einheiten der Armee gebracht und verbüßen ihre Strafe wahrscheinlich in den Militärgefängnissen. Diejenigen jedoch, die ihren Militärdienst noch nicht angetreten hatten, wurden nach Klima, in der Nähe von Aseb, in ein Militärcamp gebracht. Andere verschwanden einfach: ihre Familien wissen nichts über ihren Verbleib.
Trotz der Abschiebungen brechen die Emigranten weiterhin in Richtung Israel auf. Das hat dazu geführt, dass das israelische Parlament in erster Lesung einen Gesetzesentwurf beschlossen hat, der bis zu sieben Jahre Haft für die illegale Einreise in das Land vorsieht. Aber seit wenn gibt es diese Route? Und warum Israel, und nicht Europa? Um dies zu verstehen, muss man 26 Jahre zurückgehen, ins Jahr 1983, zum Beginn des dritten Kriegs im Südsudan, der zwei Millionen Opfer in 20 Jahren Kampf gefordert hat. Anfang der achtziger Jahre wurden Ölfelder im Süden entdeckt. Durch den bewaffneten Konflikt zwischen der Armee und den Spla-Rebellen (Sudan People’s Liberation Army) gab es hunderttausende Vertriebene, im Land und außerhalb. Ägypten, im Norden, war ein natürlicher Fluchtweg. Die ersten Flüchtlinge kamen 1985 nach Kairo. Sie wurden von den Comboni-Missionaren vom Herzen Jesu in Abbasiyah aufgenommen.
„Zunächst brachten wir sie in der Kirche unter“, erinnert sich Pater Simon heute. „Es waren 100 Personen und etwa zwanzig Kinder, für die wir eine kleine Schule organisiert hatten.“ Heute sind es 1.200 Kinder, die auf vier Schulen in Santa Bakita, Kilo Arba-u-nus, Maadi und Zeytun verteilt sind. Noch einmal so viele besuchen die Kurse an weiteren 12 Schulen, die von anderen Kirchen in Kairo auf die Beine gestellt wurden. Denn seit 1985 sind die Flüchtlingsströme nie wieder abgerissen. Der Krieg im Südsudan endete mit dem Vertrag vom Januar 2005. Von 1994 bis 2005 sind bei der UNHCR-Mission in Kairo 58.535 Anträge auf politisches Asyl von sudanesischen Flüchtlingen eingegangen. 31.990 haben den Flüchtlingsstatus erhalten, 16.675 davon sind im Ausland angesiedelt worden, vor allem in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Schweden und Australien. 2005, nach dem Ende des Kriegs im Südsudan, hat das UNHCR die Resettlement-Programme gestoppt und den Flüchtlingen aus dem Südsudan wurde kein politisches Asyl mehr gewährt. In der Zwischenzeit jedoch war 2003 ein zweiter Konflikt ausgebrochen, in Darfur, wo die arabischen Milizen von Janjaweed, die von der Regierung in Khartoum unterstützt wurden, den lokalen Rebellen Sla (Sudan Liberation Army) und Jem (Justice and Equality Movement) gegenüberstanden. Ein Teil der Flüchtlinge kam ab 2004 nach Kairo, um erfolglos politisches Asyl und Resettlement zu beantragen. Doch das UNHCR stellte den blauen Ausweis immer weniger aus.
Aus Protest besetzte ein Gruppe von 2.000 Flüchtlingen aus dem Darfur im Dezember 2005 den Park der Moschee Mustafa Mahmud, in Mohandesin, nicht weit vom Sitz des UNHCR, und verlangte die Einhaltung ihrer Rechte. Mitte November beschloss das UNHCR, seine Büros vorübergehend zu schließen, ohne dies weiter zu begründen. Am frühen Morgen des 30. Dezember 2005 griff die ägyptische Polizei ein und griff den Sit-in gewaltsam an. Mindestens 28 Flüchtlinge starben bei der Schlägerei, weitere 2.174 wurden verhaftet. Ein Teil von ihnen wurde zwei Tage später freigelassen. Sie wurden in die Kirche Abbasiyah, zu den Combonianern, gebracht. Es waren Personen mit offenen Wunden und gebrochenen Gliedmaßen darunter, die keinerlei ärztliche Versorgung erhalten hatten. Es waren Männer, Frauen und Kinder.
Daraufhin, meint Pater Simon, haben die Flüchtlinge angefangen, an Israel zu denken. Die Daten stimmen überein. Die Zahl der afrikanischen Emigranten, die von den israelischen Sicherheitskräften an der Grenze zu Ägypten abgefangen wurden, stieg von 200 im Jahr 2005 auf 1.200 im Jahr 2006. Die ersten von ihnen schufen den Traum. Innerhalb weniger Monate erreichte die Nachricht die 30.000 sudanesischen Flüchtlinge, die in Kairo lebten, und die Familien im Sudan. Von Khartoum aus verbreitete sich die Nachricht auch in der eritreischen Diaspora. 2007 gab es 5.500 Einreisen nach Israel vom Sinai aus, und allein im ersten Quartal 2008 waren es 2.000. Doch nicht alle von ihnen träumen von Tel Aviv. Baptiste ist einer von ihnen. Er lebt seit 2003 in Kairo und unterrichtet Musik an einer Schuler der Combonianer. Für ihn kommt es nicht in Frage, nach Israel zu gehen. Es ist zu teuer und zu gefährlich. „Diejenigen, die gehen wollen, haben die Hoffnung aufgegeben.“
Weitere Informationen:
ERITREA
Amnesty International Bericht 2008
UNHCR Bericht 2008
Beschluss des europäischen Parlaments, 2002
SUDAN
Amnesty International Bericht 2008
ÄGYPTEN
Forced Migration and Refugee Studies program (FMRS) of the American University in Cairo, A TRAGEDY OF FAILURES AND FALSE EXPECTATIONS: Report on the Events Surrounding the Three-month Sit-in and Forced Removal of Sudanese Refugees in Cairo, September–December 2005, June 2006
Israel, neues Ziel für eritreische und sudanesische Flüchtlinge, Fortress Europe, Juni 2008
Ägypten: weiterhin Deportationen von eritreischen Flüchtlingen
Sinai: ein Bericht von Human Rights Watch verurteilt Ägypten
Israel: weitere Deportationen von Flüchtlingen nach Ägypten
Ägypten: Amnesty fordert eine Untersuchung der Toten im Sinai
Brief eines eritreischen Häftlings aus Ägypten
Ägypten: weiterhin Massendeportationen von Eritreern
2.589 Eritreer landen 2006 an den Küsten Siziliens