02 April 2009

Mutige Kapitäne

españolfrançaisenglishitalianodeutschgreek
Salvataggio notturno del Twenty TwoMAZARA DEL VALLO - “Wir befinden uns im Durchgang. Das ist unser Fischfanggebiet und ihre Durchfahrtszone”. Fast jeden Tag kreuzen die Fischer im Kanal von Sizilien die Boote der Migranten im Meer vor Lampedusa. Und immer öfter ersetzen sie die Küstenwache und die Marine in schwierigen Rettungsaktionen. Die letzte fand am vergangenen 28. November 2008 statt. Bei stürmischer See und acht Meter hohen Wellen sind fünf sizilianische Schiffsbesatzungen beherzt 650 Personen zu Hilfe geeilt. Um die Protagonisten jener Rettung zu treffen begab ich mich nach Mazara del Vallo, dem ersten Fischereidistrikt Italiens. Und ich erfuhr, dass es nicht das erste Mal war. In den letzten Jahren haben die Fischer aus Mazara hunderten von Männern und Frauen das Leben gerettet. Die ihren sind unglaubliche Geschichten, von Menschen, die nach Stunden im Wasser auf hoher See aufgefischt wurden, an den Kiel eines untergegangenen Schlauchboots geklammert. Es sind dramatische Geschichten von Booten, die während der Rettungsaktionen umkippten und Menschen, die zwei Meter vor ihrer Rettung ertranken. Heldengeschichten von Seemännern, die mitten in der Nacht ins Meer sprangen, um eine ins Wasser gefallene Frau zu retten. Aber auch grausame, unsagbare Geschichten, von Leichen, die von den Fischen angefressen in den Netzen gefundenen wurden. Es sind die Geschichten einer tiefen Menschlichkeit. Von anonymen Helden, die nicht weggeschaut haben. Denn „wenn du ein Kind mit drei Monaten im Meer siehst, denkst du nicht mehr ans Geld oder an die Zeit, die verloren geht. Du denkst nur daran, ihm das Leben zu retten”.

Il capitano Pietro RussoUnd ein Mädchen von wenigen Monaten war es, das am Nachmittag des vergangenen 28. November in Lampedusa als erstes an Bord des Ghibli kam. “Sie war in eine Decke gewickelt. Ich hab das Bündel aufgemacht und ihr ein paar Grimassen geschnitten. Sie lachte”. Dieses Mädchen war seit drei Tagen auf See, gemeinsam mit ihrer Mutter und 350 weiteren Personen auf einen hölzernen Schleppkahn von zehn Metern gedrängt, der im aufgewühlten Meer 10 Meilen südlich der Insel stecken blieb. Der Kapitän Pietro Russo wird das Gesicht jenes Mädchens nicht leicht vergessen. Es war der Kommandant des Hafenamtes, der ihn bat, einzugreifen. Die Küstenwache hatte nicht die Mittel, um bei hoch gehender See auszufahren, und in der Zone befanden sich keine Schiffe der Marine. An Bord waren Frauen und Kinder, also konnte sich der Kapitän des Ghibli nicht zurückziehen. So wie sich in der vorhergehenden Nacht der Kommandant des Twenty Two Salvatore Cancemi, genannt Schillaci, nicht zurückgezogen hatte und ohne zu zögern bei Seestärke 7 hinausgefahren war, um die 300 Passagiere des anderen in der Zone befindlichen Schleppkahns in Sicherheit zu bringen.

Il capitano Salvatore CancemiDie letzte Sichtung hatte 15 Meilen westlich der Insel stattgefunden, in der Nähe der Klippen von Lampione. Mit dem Licht der Scheinwerfer durchkämmten fünf Fischkuttern der Flotte von Mazara die Zone trotz gefährlichster Seebedingungen. “Es gab acht Meter hohe Wellen und Nordost-Windböen mit 70 Stundenkilometern”, erzählt Cancemi. “Die See ging zu hoch für eine Annäherung – aber auch, um das Boot in Schlepptau zu nehmen, das Seil hätte durchreißen können. Die Brandung war zu stark. Also beschlossen wir, sie zu eskortieren. Wir blieben an den Seiten, um eine Barriere gegen den Wind zu bilden”. Es war ein 12 Meter langer Frachtkahn, aus Holz, proppenvoll, die Wellen schlugen auf das Deck des Bootes. Sie suchten Schutz von der Brandung unterhalb der Klippen von Lampedusa, in Cozzo Ponente, und fuhren mit der Lotung fort, mitten in der Nacht. Und dann näherten sie sich an, um die Insassen umsteigen zu lassen. Das war der schwierigste Moment, sagt der Fischer: hätten sie sich von der Flanke fortbewegt, wäre das Boot sofort aus dem Gleichgewicht gekommen und wäre ins Meer umgekippt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.

Il salvataggio del GhibliGerade das geschah am 17. Juli 2007 Nicola Asaro, dem Kommandant des Monastir, Jahrgang 1953. Sie fischten rote Krebse vor der libyschen Küste, als sich ihnen eine Schaluppe aus Glasfaserkunststoff mit 26 Personen an Bord näherte. “Sie waren ohne Treibstoff. Sie wollten Benzin, aber wir laufen mit Gasöl und konnten ihnen nicht helfen”. Asaro ließ die Leiter herunter, um sie an Bord steigen zu lassen. Das Meer war glatt. Es war nur ein Augenblick. Jemand stand auf, von hinten begannen sie zu drängen, und in einem Moment kippte das Boot. “Wir warfen sofort die Rettungsringe und einige Seile ins Meer. Sie konnten nicht schwimmen. Sie zogen sich gegenseitig unter Wasser.” Am Ende gelang es ihnen, 14 Personen zu retten und eine Leiche zu bergen. “Die anderen 11 hab ich mit meinen eigenen Augen ertrinken sehen”.

Uno dei gps a bordo dei pescherecci di altura mazaresiDasselbe widerfuhr vor wenigen Monaten, im Juni, dem Kommandanten des Ariete, Gaspare Marrone. Sie zogen gerade die Thunfisch-Fangbecken im Schlepptau. Das Boot mit 30 Personen an Bord kenterte zwei Meter vor dem Fischkutter. Zu fünft konnten sie sich am Fangbecken festklammern, weitere 22 konnte die Crew bergen. Drei Menschen hingegen, darunter eine Frau, verschwanden in den Wellen. Ein Jahr zuvor, im September 2007, hatte Marrone 10 Männern das Leben gerettet; er war auf hoher See auf sie getroffen, an den Kiel eines untergegangenen Schlauchboots geklammert: ein 20 cm breiter und 4 Meter langer Schlauch. Sie waren seit über zwei Stunden im Meer, nackt. Die anderen 30 Reisegefährten waren ertrunken. “Von weitem sahen sie aus wie Bojen, als ich kapierte, dass es Menschen waren, wollte ich es nicht glauben. Wir warfen die Rettungsringe aus. Der Maschinenführer sprang ins Wasser um ihnen zu helfen, sie hatten keine Kraft mehr”.

Il porto di MazaraOhne Kraft war auch der junge Mauretanier, den der Fischkutter Ofelia, am 23. August 2007, allein im Wasser 70 Meilen vor Lampedusa ausgemacht hat. “Es war Sonnenaufgang – erzählt der Kapitän Antonio Cittadino –. Ich erblickte ihn zufällig, aus dem Bullauge. Am Anfang dachte ich es sei eine Tonne. Dann sah ich, wie etwas sich bewegte. Es hob die Hand in die Luft. Es war ein Mensch”. Seit 48 Stunden saß er, das Gleichgewicht haltend, auf drei Holzbrettern des Schiffsrumpfs eines gekenterten Schlauchbootes. Einziger Überlebender von 47 Passagieren. “Wir haben ihn in einem Ruck an Bord gezogen. Er sank auf dem Boden zusammen. Er sprach nicht. Sein Fleisch war weiß vom Salz. Als er sich erholt hatte, am nächsten Tag, nannte er mich den Freund Gottes”.

Russo, Asaro, Cancemi, Marrone, Cittadino und alle anderen Kapitäne, die wie sie dem Aufruf ihres Gewissens folgten, ehren Italien. Auch deshalb sind sie vom Hochkommissariat der UNO mit dem „Per Mare Award“ zur Ehrung derjenigen, die Menschenleben retten, ausgezeichnet worden. Ein wichtiger Preis, der 2007 erstmals vergeben wurde, um öffentlich den Wert der Hilfeleistung zu bekräftigen - gerade in einer Zeit, in der die Solidarität auf See zu einem Delikt geworden ist.

Il capitano Zenzeri, a destra, con l'armatore NouiraDas wissen Kapitän Zenzeri und die sechs tunesischen Seemänner, die seit zwei Jahren in Agrigent unter Anklage stehen, aus eigener Erfahrung. Als er die beiden Kinder und die schwangere Frau unter den 44 Passagieren auf dem schlaffen Schlauchboot sah, hat er keinen Augenblick gezögert. Es war der achte August 2007. Sie haben sie an Bord geholt. Das war ihr Unglück. Der Staatsanwalt forderte zweieinhalb Jahre Haft und eine Geldbuße von 440.000 Euro für die sieben angeklagten Seefahrer. Die Anklage lautet auf Begünstigung der illegalen Einwanderung. Auch das geschieht an der italienischen Grenze. Das Urteil wird am 4. Mai 2009 erwartet. Als ich Zenzeri in Tunesien getroffen habe, hat er mir gesagt, dass er – könnte er noch einmal zurück – alles wieder gleich machen würde. Das ist das Gesetz des Meeres. Solidarität ist nie ein Verbrechen. Davon ist er überzeugt. Und überzeugt davon sind auch die Verteidigungsanwälte – Leonardo Marino und Giacomo La Russa – die im Falle eines Schuldspruchs einen Kampf bis hin zum Europäischen Gerichtshof versprechen.

Gabriele Del Grande, translated by Karin Leiter