Oktober 2008: Mindestens 108 Tote vor den Toren der EU sind im Oktober, in Marokko (49), Spanien (9), Griechenland (20), Türkei (18), Albanien (5), Ägypten (3), Malta (2) und Frankreich (2)
TUNESIEN – Verhaftung und Folterung von Gewerkschaftern. Von der Polizei getötete Demonstranten. Journalisten im Gefängnis. Und ein mächtiger Zensurapparat, der das Ausbreiten des Protests verhindern soll. Es ist keine Geschichtsstunde über Faschismus, sondern die Chronik der letzten zehn Monate in Tunesien. Eine Chronik, die keinen Zweifel über die Natur des Regimes von Zine El Abidine Ben Ali lässt - an der Spitze des Landes seit 1987 - und die die verborgene Seite eines Landes aufdeckt, das alljährlich von Millionen Touristen besucht und von tausenden Emigranten verlassen wird. Um sie zu schreiben, musste ich auf illegalem Weg die Stadt Redeyef erreichen, das Herz der Revolte im Südwesten des Landes, um die Kernzeugen jener sozialen Bewegung zu treffen, die von den demokratischen Kreisen in Tunis bereits als die wichtigste und langatmigste der letzten 20 Jahre in Tunesien bezeichnet wird. Als die Polizei mich entdeckte, war es bereits zu spät. Von jenem Tag an wurde ich von Agenten in Zivil überwacht, Tag und Nacht. Mein Telefon wurde abgehört. Ich wurde eingeschüchtert. Aber am Flughafen von Tunis haben sie bei der Durchsuchung meines Gepäcks nicht das gefunden, wonach sie suchten. Die Interviews waren vor mir in Italien angekommen, dank eines eingefahrenen Untergrund-Postsystems und einer guten Internetverbindung.
Redeyef ist eine Kleinstadt mit 37.000 Einwohnern in der Region Gafsa, 400 km südlich von Tunis. Wir befinden uns an der Grenze zu Algerien, im Herzen eines der größten Phosphatabbaugebiete der Welt. Die Minen strecken sich von Moulares nach Redeyef aus, von Mdhilla bis Metlaoui. Die Horizontlinie ist eine Kette grauer, felsiger Berge; dahinter erhebt sich ein Himmel, der nicht im üblichen Blau erstrahlt, milchig bleich von dem durch Ausgrabungen und Phosphatwaschungen aufgewirbelten Staub. Die Erzvorkommen wurden 1897 während der Kolonialzeit von dem Franzosen Philippe Thomas entdeckt. Die Phosphatgesellschaft von Gafsa (CPG) wurde gleich nach der Unabhängigkeit 1956 verstaatlicht. Aus diesen Minen wurden im Jahr 2007 8 Millionen Tonnen Phosphat gefördert, eine Zahl, die Tunesien zum weltweit fünftgrößten Erzeuger dieses Minerals macht, das für die Herstellung von Düngemitteln bestimmt ist. Die wichtigsten Käufer sind China und Indien, ihre Nachfrage dopt den Markt. Der Preis für eine Tonne Rohphosphat ist von 40 Dollar im 2007 zu den aktuellen 130 Dollar hochgeschossen. Gleichzeitig hat das Diammoniumphosphat die 1.000-Dollar-Grenze überschritten. Die Geschäfte der CPG laufen bestens, aber in Redeyef würde man das Gegenteil vermuten.
Infolge der Modernisierung der Anlagen und der Nutzung von Gruben unter freiem Himmel hat die CPG 75% der Angestellten gekürzt und die Produktion verdoppelt. Heute zählt die Gesellschaft 5.000 Angestellte. Und in den Städten der Bergarbeiter ist die Arbeitslosigkeit auf 40% gestiegen. Die CPG ist das einzige Schwungrad der Wirtschaft in dieser Region. Landwirtschaft und Viehzucht sind aufgrund der Verschmutzung des Grundwassers, die von den Phosphatwaschanlagen verursacht wird, vollkommen beeinträchtigt. Unter diesen Bedingungen 'verbrennen' - wie man im Arabischen sagt - jedes Jahr hunderte junger Menschen die Grenze, auf dem Weg nach Libyen und von dort nach Lampedusa. Dabei hat Redeyef bis zu den Sechziger Jahren Einwanderer aus Libyen, Algerien, Marokko, Malta und sogar Italien beherbergt, die sich in den Süden Tunesiens aufmachten, auf der Suche nach Arbeit in den Minen der CPG. Es war jene starke Konzentration von Arbeitern, die die ersten gewerkschaftlichen Experimente im Land am Anfang des 20. Jahrhunderts ins Leben rief und aus der sich eine starke gewerkschaftliche Tradition entwickelte. Diese liegt der Bewegung zugrunde, welche seit Januar 2008 von der Regierung verlangt, den von der CPG produzierten Reichtum in die Region zu investieren und sich der Umweltschäden anzunehmen.
Alles beginnt am 5. Januar 2008, als die Phosphatgesellschaft von Gafsa (CPG) die Ergebnisse einer öffentlichen Ausschreibung für 80 Arbeitsplätze bekannt gibt, an der über 10.000 Personen teilgenommen haben. Die Liste wird für betrügerisch gehalten. Die jungen Arbeitslosen rebellieren und besetzen aus Protest den Regionalsitz der Gewerkschaft (UGTT) in Redeyef, die am Betrug mitschuldig sein soll. Bald schließen sich ihnen 11 Witwen an. Sie verlangen die Einhaltung der Quoten, die den Söhnen der am Arbeitsplatz Verunglückten zustehen, und blockieren die mit Phosphat beladenen Warenzüge.
Die Protestbasis erweitert sich. Eine Gruppe von Gewerkschaftern - hauptsächlich Lehrer der Oberschulen und somit nicht Teil der CPG - wird von den lokalen Autoritäten beauftragt, mit den Demonstranten zu verhandeln. Mittlerweile informieren die Oppositionszeitungen über die Demonstrationen. Bereits ab März nimmt in Tunis ein nationales Komitee zur Unterstützung der Minenarbeiter Form an. Am 4. April nehmen einige Gewerkschafter von Redeyef an einer Solidaritätskundgebung teil, die in der Hauptstadt einberufen wird. Doch bei ihrer Rückkehr, am Morgen des 7. April, werden sie zusammen mit Dutzenden von Aktivisten verhaftet. Unter ihnen auch Adnan Hajji, Sekretär der Lehrergewerkschaft von Redeyef und charismatische Gestalt der Protestbewegung. Am selben Tag unterbrechen die Lehrer in der Stadt den Unterricht und kurz darauf wird ein Generalstreik einberufen, der sich über drei Tage hinauszieht. Am 9. April demonstrieren etwa dreißig Frauen, um die Befreiung ihrer Ehemänner zu verlangen. Die Stadt schließt sich dem Protestzug an, der bis vor die Präfektur gelangt. Am darauffolgenden Tag werden die Gewerkschafter freigelassen. Bei ihrer Ankunft in der Stadt werden sie von einer gewaltigen Menschenmenge empfangen. Mehr als 20.000 Menschen jubeln ihrem neuen Anführer, Adnan Hajji, zu.
In der Zwischenzeit nehmen in Frankreich die Solidaritätsinitiativen zu, die von tunesischen Emigranten vor allem in Nantes animiert werden. Hier lebt eine zahlenstarke Gemeinschaft aus Redeyef, die ein Solidaritätskomitee gründet und auf die Strasse geht. Im Bergbaugebiet scheinen die Proteste indes nicht abklingen zu wollen. Am 6. Mai 2008 besetzt eine Gruppe junger Arbeitsloser den elektrischen Generator von Tabeddit und dreht den Produktionsanlagen der CPG den Strom ab. Die Polizei trifft am Ort ein und ein Funktionär der Präfektur fordert die Jungen auf, zu gehen. Der Wiederherstellung der Stromverbindung kann Hicham Ben Jeddou el-Alaymi nur seinen Körper entgegensetzen, er hängt sich an die Hochspannungsleitung und droht mit Selbstmord. Jemand drückt dennoch auf den Schalter. Wenige Sekunden später liegt der Körper des Jungen verbrannt auf dem Boden. Es ist der Auftakt der harten Linie.
Aus Tunesien wird Verstärkung geschickt. Polizei und Heer kontrollieren jede Zufahrtsstrasse nach Redeyef. Agenten in Zivil überwachen die Hauptakteure der Proteste. Die Stimmung zwischen Einwohnern und Polizei artet aus. Bars und Geschäfte weigern sich, die Polizisten zu bedienen. Der junge Haytham Smadah fällt infolge der Schlagstockhiebe ins Koma. Am 2. Juni noch ein Toter: Nabil Chagra, tödlich von einem Polizeiauto während der Verfolgung einiger Demonstranten überfahren. In der Nacht des 5. Juni werden einige Geschäfte ausgerechnet von der Polizei beschädigt und geplündert. Am folgenden Tag versammelt sich die Stadt zu einem großen Protestmarsch. Diesmal aber hat die Polizei den Befehl, die Menge auseinanderzutreiben und zu schießen. Hafnaoui Maghzaoui stirbt auf der Stelle nach einem Brustschuss. Weitere 27 Jugendliche werden mit Schusswaffenverletzungen ins Krankenhaus von Gafsa eingeliefert. Einer von ihnen, Abdelkhaleq Aamidi, stirbt drei Monate später, am 14. September, im Krankenhaus. Todesursache sind die Rückenmarkverletzungen durch Projektile, die in Hüfthöhe abgefeuert wurden. Er wurde am Rücken getroffen, wahrscheinlich während er flüchtete. Das Feuer auf eine Demonstration eröffnet hatte die tunesische Polizei zuletzt im Januar 1984, während der Brotkrise. Damals war Habib Bourguiba Präsident gewesen. Und Ben Ali war der Leiter der nationalen Sicherheit.
Im Lauf weniger Monate weden über zweihundert Personen verhaftet. Gewerkschafter und einfache Leute. Viele laufen weg. Zu Dutzenden suchen sie jede Nacht Zuflucht in den Bergen rund um die Stadt. Aber die ständigen Einfälle der Polizei in die Häuser und die Gewalt, die auf die Familienmitglieder ausgeübt wird, bringen sie dazu, sich der Justiz zu stellen. Dem Bericht informierter Zeugen zufolge verprügeln Agenten der tunesischen Polizei in der Nacht zwischen 21. und 22. Juni den Sohn des Gewerkschafters Bechir Laabidi, Ghassen, um Informationen über den untergetauchten Vater zu erhalten. Auf die gleiche Weise schlagen sie die alte Mutter des Gewerkschafters Tarek Hläimi und dessen Bruder. In derselben Nacht wird der Protestanführer Adnan Hajji zum zweiten Mal verhaftet.
Die Bewegung ist enthauptet. Aber keine Frau ist verhaftet worden. Sie sind es, die Frauen der Gewerkschafter und der inhaftierten Aktivisten, die am 27. Juli wieder auf die Strasse gehen, um die Freilassung der Gefangenen zu verlangen. Unter ihnen befindet sich auch Zakiya Dhifaoui. Jahrgang 1966, Journalistin, Dichterin und Lehrerin der Geschichte und Geographie am Lyzeum Rue de Fez, in Kairouan. Sie schreibt für die Zeitung Muatinun der Oppositionspartei Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit, deren Mitglied sie ist. Sie hat es geschafft, die Kontrollen der Polizei zu umgehen und Redeyef zu erreichen, um eine Reportage zu schreiben. Sobald die Demonstration endet, stürmt die Polizei in das Haus von Jomaa, der Frau von Adnan Hajji, in dem sich die Journalistin befindet. Ihre Verhaftung ist eine Symbolische. Eine Botschaft an alle tunesischen Journalisten, nicht nach Redeyef zu kommen und nicht über die Aufstände zu schreiben. Das ist die andere Seite der Repression: die absolute Informationskontrolle.
Am 10. September 2008 wird Zakiya Dhifaoui rechtskräftig zu viereinhalb Monaten Haft verurteilt. Und sie ist nicht die einzige Journalistin hinter Gittern. Unter Anklage gestellt wird die Ausdrucksfreiheit selbst. Während der Proteste werden die Informationen über Redeyef auf zwei Wegen verbreitet: über die Oppositionszeitungen und über den Fernsehsender al-Hiwar. Die oppositionelle Tageszeitung der alten kommunistischen Partei Tunesiens, Tareq al Jadid, kann auf einen Korrespondenten aus Redeyef zählen, Amor Gondher. Der jedoch aufgrund seiner Offenlegungen der Missstände am Abend des 26. Juni in der Nähe seines Hauses in Nefta zuerst bedroht, dann von zwei Polizeiagenten zusammengeschlagen wird. Dasselbe Schicksal hatte einen Monat zuvor Masoud Romdhani, Mitglied des tunesischen Menschenrechtsverbands und Wortführer der nationalen Bewegung zur Unterstützung der Minenarbeiter getroffen, der von Agenten in Zivil am Busbahnhof von Tunis zusammengeschlagen wurde und seither unter strengster Aufsicht gehalten wird.
Die Videoaufnahmen der Demonstrationen und der polizeilichen Gewalttaten in Redeyef hatte hingegen ein einheimischer Fotograf, Mahmoud Raddadi, mit Amateurmaterial gemacht. Anschliessend wurden sie von dem italienischen Satellitensender Arcoiris in der Sendezeit zwischen 20:00 und 22:00 Uhr ausgestrahlt, als Teil eines Programms, das vom tunesischen Kanal El Hiwar herausgegeben wird. Es sind dieselben Anklage-Videos, die heimlich in ganz Tunesien auf gebrannten DVDs ausgeteilt und anschliessend von Al Jazeera verbreitet und auf Youtube und Dailymotion geladen wurden. Internet war grundlegend, um die Hülle des Schweigens zu durchbrechen. Online kann man die Bilder der Schussverletzten sehen, der Demonstranten und der Versammlungen von Hajji. Doch Youtube und Dailymotion sind in Tunesien seit November 2007 verdunkelt, gerade aufgrund der Videos, die die Folter anklagen und Ben Ali beschimpfen. Arcoiris hingegen sieht man weiterhin, aber das Programm von Al Hiwar ist verschwunden. Der Fotograf Raddadi ist im Gefängnis. Und Fahim Bouqaddous, der sich um den Schnitt kümmerte, ist am 5. Juli von zu Hause geflohen, um dem Haftbescheid zu entkommen. Beide werden beschuldigt, Informationen mit dem Zweck der Destabilisierung der öffentlichen Ordnung verbreitet zu haben. Sie riskieren bis zu zwölf Jahren Haft. Bald werden sie zusammen mit weiteren 38 Angeklagten, darunter 14 Gewerkschafter, einem Gerichtsverfahren unterzogen. Die Debatte wird Ende November beginnen. Die Anklage lautet auf kriminelle Vereinigung. Es ist einer der größten politischen Prozesse der Ära Ben Ali. Viele der Inhaftierten gaben vor, Folterungen unterzogen worden sowie zur Unterzeichnung von nie gemachten Äusserungen gezwungen worden zu sein. Adnan Hajji, Bechir Laabidi und Tayeb Ben Outhman, die drei gewerkschaftlichen Anführer des Protestes, sind in den Gefängnissen von Kasserine und Sidi Bouzid gefangen gehalten, 150 km von Redeyef entfernt. Die anderen sind alle in Gafsa. Hier wird der Prozess abgehalten.
Vor dem Gerichtsgebäude lächelt Ben Ali von einem der allgegenwärtigen Poster, die jede tunesische Stadt tapezieren. Am 7. November wird der einundzwanzigste Jahrtag seiner Präsidentschaft gefeiert. Im November 2009 wird wieder gewählt. Die Toten von Redeyef werden nicht ausreichen, um das klientelare Konsensnetz der konstitutionellen demokratischen Partei (RDC) zu beschädigen. Auch nicht, um die Opposition nach jahrelanger Unterdrückung jeglicher Meinungsverschiedenheit neu aufleben zu lassen. Die Anwälte der Verteidigung wissen es, das Urteil ist bereits gefällt. Aber in der Geschichte gibt es so etwas wie Anhäufung... sagt einer von ihnen unter Anonymität. Schließlich schrieb es bereits vor einem Jahrhundert der junge Dichter von Tozeur, Abou el Kacem Chebbi: "wenn das Volk das Leben wählen wird, muss das Schicksal antworten, die Nacht wird sich erhellen und die Ketten werden zerspringen".
Redeyef ist eine Kleinstadt mit 37.000 Einwohnern in der Region Gafsa, 400 km südlich von Tunis. Wir befinden uns an der Grenze zu Algerien, im Herzen eines der größten Phosphatabbaugebiete der Welt. Die Minen strecken sich von Moulares nach Redeyef aus, von Mdhilla bis Metlaoui. Die Horizontlinie ist eine Kette grauer, felsiger Berge; dahinter erhebt sich ein Himmel, der nicht im üblichen Blau erstrahlt, milchig bleich von dem durch Ausgrabungen und Phosphatwaschungen aufgewirbelten Staub. Die Erzvorkommen wurden 1897 während der Kolonialzeit von dem Franzosen Philippe Thomas entdeckt. Die Phosphatgesellschaft von Gafsa (CPG) wurde gleich nach der Unabhängigkeit 1956 verstaatlicht. Aus diesen Minen wurden im Jahr 2007 8 Millionen Tonnen Phosphat gefördert, eine Zahl, die Tunesien zum weltweit fünftgrößten Erzeuger dieses Minerals macht, das für die Herstellung von Düngemitteln bestimmt ist. Die wichtigsten Käufer sind China und Indien, ihre Nachfrage dopt den Markt. Der Preis für eine Tonne Rohphosphat ist von 40 Dollar im 2007 zu den aktuellen 130 Dollar hochgeschossen. Gleichzeitig hat das Diammoniumphosphat die 1.000-Dollar-Grenze überschritten. Die Geschäfte der CPG laufen bestens, aber in Redeyef würde man das Gegenteil vermuten.
Infolge der Modernisierung der Anlagen und der Nutzung von Gruben unter freiem Himmel hat die CPG 75% der Angestellten gekürzt und die Produktion verdoppelt. Heute zählt die Gesellschaft 5.000 Angestellte. Und in den Städten der Bergarbeiter ist die Arbeitslosigkeit auf 40% gestiegen. Die CPG ist das einzige Schwungrad der Wirtschaft in dieser Region. Landwirtschaft und Viehzucht sind aufgrund der Verschmutzung des Grundwassers, die von den Phosphatwaschanlagen verursacht wird, vollkommen beeinträchtigt. Unter diesen Bedingungen 'verbrennen' - wie man im Arabischen sagt - jedes Jahr hunderte junger Menschen die Grenze, auf dem Weg nach Libyen und von dort nach Lampedusa. Dabei hat Redeyef bis zu den Sechziger Jahren Einwanderer aus Libyen, Algerien, Marokko, Malta und sogar Italien beherbergt, die sich in den Süden Tunesiens aufmachten, auf der Suche nach Arbeit in den Minen der CPG. Es war jene starke Konzentration von Arbeitern, die die ersten gewerkschaftlichen Experimente im Land am Anfang des 20. Jahrhunderts ins Leben rief und aus der sich eine starke gewerkschaftliche Tradition entwickelte. Diese liegt der Bewegung zugrunde, welche seit Januar 2008 von der Regierung verlangt, den von der CPG produzierten Reichtum in die Region zu investieren und sich der Umweltschäden anzunehmen.
Alles beginnt am 5. Januar 2008, als die Phosphatgesellschaft von Gafsa (CPG) die Ergebnisse einer öffentlichen Ausschreibung für 80 Arbeitsplätze bekannt gibt, an der über 10.000 Personen teilgenommen haben. Die Liste wird für betrügerisch gehalten. Die jungen Arbeitslosen rebellieren und besetzen aus Protest den Regionalsitz der Gewerkschaft (UGTT) in Redeyef, die am Betrug mitschuldig sein soll. Bald schließen sich ihnen 11 Witwen an. Sie verlangen die Einhaltung der Quoten, die den Söhnen der am Arbeitsplatz Verunglückten zustehen, und blockieren die mit Phosphat beladenen Warenzüge.
Die Protestbasis erweitert sich. Eine Gruppe von Gewerkschaftern - hauptsächlich Lehrer der Oberschulen und somit nicht Teil der CPG - wird von den lokalen Autoritäten beauftragt, mit den Demonstranten zu verhandeln. Mittlerweile informieren die Oppositionszeitungen über die Demonstrationen. Bereits ab März nimmt in Tunis ein nationales Komitee zur Unterstützung der Minenarbeiter Form an. Am 4. April nehmen einige Gewerkschafter von Redeyef an einer Solidaritätskundgebung teil, die in der Hauptstadt einberufen wird. Doch bei ihrer Rückkehr, am Morgen des 7. April, werden sie zusammen mit Dutzenden von Aktivisten verhaftet. Unter ihnen auch Adnan Hajji, Sekretär der Lehrergewerkschaft von Redeyef und charismatische Gestalt der Protestbewegung. Am selben Tag unterbrechen die Lehrer in der Stadt den Unterricht und kurz darauf wird ein Generalstreik einberufen, der sich über drei Tage hinauszieht. Am 9. April demonstrieren etwa dreißig Frauen, um die Befreiung ihrer Ehemänner zu verlangen. Die Stadt schließt sich dem Protestzug an, der bis vor die Präfektur gelangt. Am darauffolgenden Tag werden die Gewerkschafter freigelassen. Bei ihrer Ankunft in der Stadt werden sie von einer gewaltigen Menschenmenge empfangen. Mehr als 20.000 Menschen jubeln ihrem neuen Anführer, Adnan Hajji, zu.
In der Zwischenzeit nehmen in Frankreich die Solidaritätsinitiativen zu, die von tunesischen Emigranten vor allem in Nantes animiert werden. Hier lebt eine zahlenstarke Gemeinschaft aus Redeyef, die ein Solidaritätskomitee gründet und auf die Strasse geht. Im Bergbaugebiet scheinen die Proteste indes nicht abklingen zu wollen. Am 6. Mai 2008 besetzt eine Gruppe junger Arbeitsloser den elektrischen Generator von Tabeddit und dreht den Produktionsanlagen der CPG den Strom ab. Die Polizei trifft am Ort ein und ein Funktionär der Präfektur fordert die Jungen auf, zu gehen. Der Wiederherstellung der Stromverbindung kann Hicham Ben Jeddou el-Alaymi nur seinen Körper entgegensetzen, er hängt sich an die Hochspannungsleitung und droht mit Selbstmord. Jemand drückt dennoch auf den Schalter. Wenige Sekunden später liegt der Körper des Jungen verbrannt auf dem Boden. Es ist der Auftakt der harten Linie.
Aus Tunesien wird Verstärkung geschickt. Polizei und Heer kontrollieren jede Zufahrtsstrasse nach Redeyef. Agenten in Zivil überwachen die Hauptakteure der Proteste. Die Stimmung zwischen Einwohnern und Polizei artet aus. Bars und Geschäfte weigern sich, die Polizisten zu bedienen. Der junge Haytham Smadah fällt infolge der Schlagstockhiebe ins Koma. Am 2. Juni noch ein Toter: Nabil Chagra, tödlich von einem Polizeiauto während der Verfolgung einiger Demonstranten überfahren. In der Nacht des 5. Juni werden einige Geschäfte ausgerechnet von der Polizei beschädigt und geplündert. Am folgenden Tag versammelt sich die Stadt zu einem großen Protestmarsch. Diesmal aber hat die Polizei den Befehl, die Menge auseinanderzutreiben und zu schießen. Hafnaoui Maghzaoui stirbt auf der Stelle nach einem Brustschuss. Weitere 27 Jugendliche werden mit Schusswaffenverletzungen ins Krankenhaus von Gafsa eingeliefert. Einer von ihnen, Abdelkhaleq Aamidi, stirbt drei Monate später, am 14. September, im Krankenhaus. Todesursache sind die Rückenmarkverletzungen durch Projektile, die in Hüfthöhe abgefeuert wurden. Er wurde am Rücken getroffen, wahrscheinlich während er flüchtete. Das Feuer auf eine Demonstration eröffnet hatte die tunesische Polizei zuletzt im Januar 1984, während der Brotkrise. Damals war Habib Bourguiba Präsident gewesen. Und Ben Ali war der Leiter der nationalen Sicherheit.
Im Lauf weniger Monate weden über zweihundert Personen verhaftet. Gewerkschafter und einfache Leute. Viele laufen weg. Zu Dutzenden suchen sie jede Nacht Zuflucht in den Bergen rund um die Stadt. Aber die ständigen Einfälle der Polizei in die Häuser und die Gewalt, die auf die Familienmitglieder ausgeübt wird, bringen sie dazu, sich der Justiz zu stellen. Dem Bericht informierter Zeugen zufolge verprügeln Agenten der tunesischen Polizei in der Nacht zwischen 21. und 22. Juni den Sohn des Gewerkschafters Bechir Laabidi, Ghassen, um Informationen über den untergetauchten Vater zu erhalten. Auf die gleiche Weise schlagen sie die alte Mutter des Gewerkschafters Tarek Hläimi und dessen Bruder. In derselben Nacht wird der Protestanführer Adnan Hajji zum zweiten Mal verhaftet.
Die Bewegung ist enthauptet. Aber keine Frau ist verhaftet worden. Sie sind es, die Frauen der Gewerkschafter und der inhaftierten Aktivisten, die am 27. Juli wieder auf die Strasse gehen, um die Freilassung der Gefangenen zu verlangen. Unter ihnen befindet sich auch Zakiya Dhifaoui. Jahrgang 1966, Journalistin, Dichterin und Lehrerin der Geschichte und Geographie am Lyzeum Rue de Fez, in Kairouan. Sie schreibt für die Zeitung Muatinun der Oppositionspartei Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit, deren Mitglied sie ist. Sie hat es geschafft, die Kontrollen der Polizei zu umgehen und Redeyef zu erreichen, um eine Reportage zu schreiben. Sobald die Demonstration endet, stürmt die Polizei in das Haus von Jomaa, der Frau von Adnan Hajji, in dem sich die Journalistin befindet. Ihre Verhaftung ist eine Symbolische. Eine Botschaft an alle tunesischen Journalisten, nicht nach Redeyef zu kommen und nicht über die Aufstände zu schreiben. Das ist die andere Seite der Repression: die absolute Informationskontrolle.
Am 10. September 2008 wird Zakiya Dhifaoui rechtskräftig zu viereinhalb Monaten Haft verurteilt. Und sie ist nicht die einzige Journalistin hinter Gittern. Unter Anklage gestellt wird die Ausdrucksfreiheit selbst. Während der Proteste werden die Informationen über Redeyef auf zwei Wegen verbreitet: über die Oppositionszeitungen und über den Fernsehsender al-Hiwar. Die oppositionelle Tageszeitung der alten kommunistischen Partei Tunesiens, Tareq al Jadid, kann auf einen Korrespondenten aus Redeyef zählen, Amor Gondher. Der jedoch aufgrund seiner Offenlegungen der Missstände am Abend des 26. Juni in der Nähe seines Hauses in Nefta zuerst bedroht, dann von zwei Polizeiagenten zusammengeschlagen wird. Dasselbe Schicksal hatte einen Monat zuvor Masoud Romdhani, Mitglied des tunesischen Menschenrechtsverbands und Wortführer der nationalen Bewegung zur Unterstützung der Minenarbeiter getroffen, der von Agenten in Zivil am Busbahnhof von Tunis zusammengeschlagen wurde und seither unter strengster Aufsicht gehalten wird.
Die Videoaufnahmen der Demonstrationen und der polizeilichen Gewalttaten in Redeyef hatte hingegen ein einheimischer Fotograf, Mahmoud Raddadi, mit Amateurmaterial gemacht. Anschliessend wurden sie von dem italienischen Satellitensender Arcoiris in der Sendezeit zwischen 20:00 und 22:00 Uhr ausgestrahlt, als Teil eines Programms, das vom tunesischen Kanal El Hiwar herausgegeben wird. Es sind dieselben Anklage-Videos, die heimlich in ganz Tunesien auf gebrannten DVDs ausgeteilt und anschliessend von Al Jazeera verbreitet und auf Youtube und Dailymotion geladen wurden. Internet war grundlegend, um die Hülle des Schweigens zu durchbrechen. Online kann man die Bilder der Schussverletzten sehen, der Demonstranten und der Versammlungen von Hajji. Doch Youtube und Dailymotion sind in Tunesien seit November 2007 verdunkelt, gerade aufgrund der Videos, die die Folter anklagen und Ben Ali beschimpfen. Arcoiris hingegen sieht man weiterhin, aber das Programm von Al Hiwar ist verschwunden. Der Fotograf Raddadi ist im Gefängnis. Und Fahim Bouqaddous, der sich um den Schnitt kümmerte, ist am 5. Juli von zu Hause geflohen, um dem Haftbescheid zu entkommen. Beide werden beschuldigt, Informationen mit dem Zweck der Destabilisierung der öffentlichen Ordnung verbreitet zu haben. Sie riskieren bis zu zwölf Jahren Haft. Bald werden sie zusammen mit weiteren 38 Angeklagten, darunter 14 Gewerkschafter, einem Gerichtsverfahren unterzogen. Die Debatte wird Ende November beginnen. Die Anklage lautet auf kriminelle Vereinigung. Es ist einer der größten politischen Prozesse der Ära Ben Ali. Viele der Inhaftierten gaben vor, Folterungen unterzogen worden sowie zur Unterzeichnung von nie gemachten Äusserungen gezwungen worden zu sein. Adnan Hajji, Bechir Laabidi und Tayeb Ben Outhman, die drei gewerkschaftlichen Anführer des Protestes, sind in den Gefängnissen von Kasserine und Sidi Bouzid gefangen gehalten, 150 km von Redeyef entfernt. Die anderen sind alle in Gafsa. Hier wird der Prozess abgehalten.
Vor dem Gerichtsgebäude lächelt Ben Ali von einem der allgegenwärtigen Poster, die jede tunesische Stadt tapezieren. Am 7. November wird der einundzwanzigste Jahrtag seiner Präsidentschaft gefeiert. Im November 2009 wird wieder gewählt. Die Toten von Redeyef werden nicht ausreichen, um das klientelare Konsensnetz der konstitutionellen demokratischen Partei (RDC) zu beschädigen. Auch nicht, um die Opposition nach jahrelanger Unterdrückung jeglicher Meinungsverschiedenheit neu aufleben zu lassen. Die Anwälte der Verteidigung wissen es, das Urteil ist bereits gefällt. Aber in der Geschichte gibt es so etwas wie Anhäufung... sagt einer von ihnen unter Anonymität. Schließlich schrieb es bereits vor einem Jahrhundert der junge Dichter von Tozeur, Abou el Kacem Chebbi: "wenn das Volk das Leben wählen wird, muss das Schicksal antworten, die Nacht wird sich erhellen und die Ketten werden zerspringen".
FÜR VERTIEFUNGEN
- DIE VIDEOS VON REDEYEF AUF YOU TUBE
- DIE VIDEOS VON REDEYEF AUF DAILY MOTION
- TUNESIEN: BERICHT AMNESTY INTERNATIONAL 2007
- TUNESIEN: BERICHT REPORTERS SANS FRONTIÈRES 2008
- Tunesien, der Aufstand des «Volks der Minen», Le Monde Diplomatique
- Tunesien, der italienische Putsch: "Ja, wir haben Ben Alì gewählt", Repubblica
Wirtschaft Das BIP Tunesiens ist 2007 um 6,3% gestiegen. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt 2.400 Euro im Jahr, 4,8% mehr als 2007. Während die Inflation im August 2008 5,4% beträgt, liegt die Arbeitslosenrate bei 14,2%, mit Spitzen von 40% in Redeyef | Phosphat Im 2007 hat die CPG 8 Millionen Tonnen Phosphat gefördert. Die Erzvorkommen von Gafsa wurden von den Franzosen 1897 entdeckt. Der Preis für eine Tonne Rohphosphat stieg von 40 Dollar im 2007 auf 130 im 2008 |
Tourismus Im 2007 hat Tunesien 6,7 Millionen Touristen beherbergt, bei einem Umsatz von 1,6 Milliarden Euro. In den ersten neun Monaten des 2008 haben die Besucher um 3%, die Einnahmen um 9% zugenommen. Einwanderung | Einwanderung In Italien leben mindestens 100.000 Tunesier. In der ersten Hälfte des 2008 sind in Sizilien 1.287 Tunesier gelandet. Einige der 40 Opfer des Schiffsbruchs vom 19. März 2008 stammten aus Metlaoui |
written by Gabriele Del Grande, translated by Karin Leiter